Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen by Heitmann Tanja

Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen by Heitmann Tanja

Autor:Heitmann, Tanja [Heitmann, Tanja]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Cbt Verlag
veröffentlicht: 2010-04-13T22:00:00+00:00


18

Im Weißen Licht

Es war mir unmöglich zu sagen, ob die Zeit seit meinem Sprung von der Klippe dahinraste oder doch eher schlich. Mein geheilter Ellbogen und die sauber vernarbten Schnittstellen an meinen Fingern deuteten darauf hin, dass mehrere Wochen vergangen sein mussten, aber gefühlsmäßig kam es mir nicht länger als eine Handvoll Tage vor - bestenfalls. Die Erinnerung an den Sturz war grauenhaft, doch das, was mich danach erwartet hatte, war noch viel schlimmer gewesen. Das Willkommen, nachdem ich den Meeresspiegel durchschlagen hatte, hatte den brutalen Angriff meines Vaters wie eine Nebensächlichkeit erscheinen lassen: Eingesponnen in einen Kokon hatte ich dagelegen, in der Gewalt eines unbekannten, aber umso bedrohlicheren Schattens. Wie lange ich dort verharrt habe, weiß ich nicht - doch letztendlich habe ich mich daraus befreien können. Beides, der Angriff meines Vaters und meine Gefangenschaft, lagen nun hinter mir und ich weigerte mich, auch nur einen Gedanken an diese grauenvolle Zeit zu verschwenden. Stattdessen ließ ich mich treiben, überließ mich der Leere in mir und vermied jeden klaren Gedanken und jedes Gefühl. Zu meiner Erleichterung schlich sich die Erinnerung auch nicht in meinen Schlaf, der im Gegensatz zu früher nicht mehr als ein süßer Sog war. Meine Träume hatten jetzt nichts mehr mit mir zu tun, und dafür war ich ausgesprochen dankbar. Denn zu was auch immer ich geworden war, ich wollte es nicht so genau wissen. Außerdem hat ein Ich stets auch eine Vergangenheit, und meine ertrug ich im Moment nicht. Vielleicht nie wieder.

Dafür gab ich mich voll und ganz dem Fliegen hin. Zwar hatte ich nie die leiseste Ahnung gehabt, dass sich Schwingen in meinem Körper verbargen, aber seit der Sekunde, in der ich sie zum ersten Mal geöffnet hatte, waren sie mir so vertraut wie meine Hände und Beine. Trotzdem fielen meine ersten Flugversuche eher ungelenk aus. Allein den richtigen Winkel zum Abheben zu finden, hatte einige Zeit in Anspruch genommen. Mittlerweile gelang es mir recht gut, die Windströmung so auszunutzen, sodass ich wie ein Papierdrache in gleichmäßigem Flug über den Himmel trieb, ohne mich groß anstrengen zu müssen. Aber anders als bei einem Drachen hielt da unten niemand die Schnüre in der Hand und bestimmte, was ich tat. Nein, hier oben in der Luft war ich frei. Nach all den Jahren, in denen ich an den Boden gekettet gewesen war, bekam ich nun schlicht nicht genug von dem Hochgefühl, das das Fliegen in mir hervorrief. Zu lange hatte ich eine unbestimmte Sehnsucht in mir getragen, von der ich nicht gewusst hatte, wie ich sie stillen sollte. Es war mehr als ein wahr gewordener Traum, denn es war meine Realität. Also tat ich nichts anderes, als die Zeit verstreichen zu lassen, indem ich durch die Luft glitt, und sie manchmal auch mit halsbrecherischem Tempo durchschnitt. Warum auch nicht? Ich verspürte weder Hunger noch Durst, nur das Bedürfnis nach Schlaf holte mich regelmäßig auf die Erde zu rück.

Dabei hatte ich gegen die kurzen Verschnaufpausen auf dem Boden auch nichts weiter einzuwenden, denn wo immer ich landete, immer war es genau meins: unberührtes Land und endlose Wälder.



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